Tanzmädchen, tanz Mädchen tanz
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Mittwoch, 22. September 2010
Onlinejournalismus
Hinter der Bühne war die Anspannung spürbar. Die Tänzerinnen wirbelten wild durcheinander, jede ging für sich noch einmal die Schrittfolge durch, drehte sich, sprang in dem engen Gang umher. Die Bühnenarbeiter verbreiteten Hektik, räumten ständig Requisiten von einer Stelle an eine andere. Nur sie war ganz ruhig. Als wäre sie gerade an einem völlig anderen Ort. Mit geschlossenen Augen und einem starren Gesichtsausdruck saß sie auf dem Fußboden. Nur ihre Hände bewegten sich auf und ab, als würden sie sich im Rhythmus der Musik bewegen. Sie tanzte still und heimlich, in ihrem Inneren.
In ihren Gedanken ging sie die Bewegungsabläufe immer wieder durch; wenn sich der Vorhang öffnete, musste alles perfekt sitzen. Direkt in der zweiten Reihe, hinter ihrer Mutter, würde er sitzen. Er, der Mann von der Royal Ballet School in London. Der Schule, an die sie unbedingt gehen wollte. Der Schule, von der sie seit ihrer Kindheit träumte. Als sie das erste paar Ballettschuhe in den Händen gehalten hatte. Rosa und aus steifem Leder, welches ihre Füße ganz wund werden ließ.
Sie strich mit ihren nackten Füßen über die kalten Fließen. Ihre Zehen waren blutig und aufgeschürft, seit Tagen waren sie mit Tape zusammengeklebt. Sie fühlten sich ganz taub an. Trotzdem zwängte sie ihre Füße in die viel zu engen Spitzenschuhe. Ihr elfenbeinfarbenes Tutu hing an einem Bügel an der Türe, bereit für den großen Auftritt. Als sie es überzog merkte sie, wie ihr Magen der großen Aufregung nicht stand hielt. Auf der Toilette erbrach sie ihr ohnehin schon mageres Frühstück. Der Blick in den Spiegel ließ sie erschaudern. Ihr bleiches Gesicht wirkte im hellen Toilettenlicht noch viel zerbrechlicher, unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Lässt sich alles wegschminken, dachte sie, atmete tief durch und löschte das Licht.
Als die ersten Takte des Nussknackers erklangen, war sie ganz konzentriert. En avant, croisé, ports de bras, pas de bourée, grand jeté.
Tanz, Mädchen, tanz, war alles, was ihre Mutter in der ersten Reihe dachte, als sich der Vorhang öffnete.
Johanna Emge
Aufgabe: Eine Szene beschreiben, die ich nicht selbst miterlebt habe, sondern mir erzählen ließ. (Textwerkstatt 6. Semester OJ, Sommer 2010, bei F. Herrmann)