Mahlzeit
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Dienstag, 15. Juni 2010
Onlinejournalismus
Er hatte nicht gedacht, noch jemanden für diesen Job zu finden. Vier Tage waren schon vergangen, seit Herr Werner sich vollständig angezogen in seine vergilbte Emaillebadewanne gelegt, die Schrotflinte durchgeladen und sich von unten durch den Kopf geschossen hatte. Vier Tage, in denen seine Hirnmasse in den Ritzen des bröckelnden Stucks verwest war. Im kleinen Badezimmer der heruntergekommenen Villa gab es nur eine Stelle, die nicht von Blut und Knochensplittern überzogen war: der Teil des Wannenrands, auf dem der Abschiedsbrief gelegen hatte. Den hatte die Spurensicherung natürlich mitgenommen. Der Rest ging sie nichts an.
Aber Herrn Moser ging es etwas an: Die Villa sollte auf den Markt, so schnell wie möglich. Die Schweinerei musste weg. Moser hatte sich schon dort knien sehen, mit einem Paar dieser lächerlichen, rosaroten Gummihandschuhe und einem kleinen, gelben Topfschwamm. Er und die kratzige Seite im Kampf gegen den starr getrockneten Werner-See.
Doch er hatte unterschätzt, wie schlecht die Zeiten waren: “Fahr an den Südring, hinter dem aufgelassenen Rauch-Lager. Da stehen sie Schlange. Wenn du anhältst, springen sie dir gleich auf den Beifahrersitz”, hatte ihm sein Bauleiter erklärt.
Trotzdem hatte Moser erwartet, dass der alte Türke sofort wieder aussteigen würde, wenn ihm klar wurde, worum es ging. “Kein Problem“, hatte der jedoch nur gesagt. Die Zeiten mussten wirklich schlecht sein, dachte Moser und stellte beschämt fest, wie er froh er darüber war.
Und als der Mann dann im Badezimmer fröhlich pfeifend den Putzeimer mit Reiniger gefüllt hatte, die Handschuhe überzog und anfing, mit Elan den goldenen Hahn der Wanne von Werners Hautfetzen zu befreien, ist Moser sich wie ein Weichei vorgekommen.
Was er aber jetzt sah, war eindeutig zu viel. Sein empfindlicher Magen hielt das nicht aus. Er hatte den Fortschritt der Arbeit überprüfen wollen, sehen, wie der Mann vorankam. Und da saß dieser, inmitten des bestialischen Gestanks. Eine Zeitung als Unterlage auf dem Boden, mit dem Rücken an der Wanne, die blutigen Putzhandschuhe fein säuberlich zusammengelegt. Auf seinem Schoß eine riesige Stulle: mit Schinken, Käse, Gurken, Mayo – eben allem, was dazugehörte. Er kaute zufrieden. Als er Moser würgen hörte, drehte er sich um: “Wollen Sie auch?”
Rebecca Sandbichler
Aufgabe: Eine Szene beschreiben, die ich nicht selbst miterlebt habe, sondern mir erzählen ließ. (Textwerkstatt 6. Semester OJ, Sommer 2010, bei F. Herrmann)