Traubenzucker kann dein Tod sein
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Samstag, 25. September 2010
Onlinejournalismus
„Lukas Wahlstrom*, bitte zum Schalter drei“, dröhnt es aus den Lautsprechern. Es herrscht hektisches Treiben auf dem Flughafen Starvangar in Norwegen. Mittendrin ein Mann, der sich nicht bewegt. Seit 30 Minuten starrt Lukas Wahlstrom ins Leere. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn.
In 15 Minuten startet das Flugzeug von Starvangar nach Frankfurt. Lukas hat bereits vor Wochen gebucht, Economy-Class, Fensterplatz. Jetzt sitzt er auf einer harten Bank in der Wartehalle und reagiert nicht, als sein Name erneut aus dem Lautsprecher klingt.
„Lukas Wahlstrom, bitte zum Schalter drei. Letzter Aufruf.“ Statt aufzustehen, bleibt Lukas steif sitzen. Er hört die Stimme der Flughafenmitarbeiterin. Er möchte zum Schalter gehen, danach das Flugzeug betreten. Aber er schafft es nicht. Einige Schweißtropfen rinnen an seinem Hals wie Regentropfen an einem Fenster hinab.
Lukas Wahlstroms Körper ist gefangen in einem diabetischen Schock. Er hört alles, was in seiner Umgebung passiert. Er sieht alles, er spürt, wie er schwitzt. Und er hofft, dass ihn jemand sieht und einen Arzt ruft.
Aber alle gehen vorbei. Warum sollen sie auch stehen bleiben? Er ist einfach nur ein Mann, der bewegungslos auf seinen Flug wartet und schwitzt. Außerdem riecht er stark nach Alkohol, das ist ein Symptom einer Überzuckerung.
Vor ihm auf dem Boden liegt ein Päckchen Traubenzucker. Das hatte er zuhause in seiner Wohnung in Starvanger extra eingesteckt. Traubenzucker nimmt er täglich, um einer Unterzuckerung vorzubeugen. Jetzt ist es aus seiner Hand gefallen. Zum Glück konnte er es nicht mehr aufheben. Traubenzucker bei Überzuckerung – das wäre sein Tod gewesen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit spürt er ein Kribbeln in seinem Körper. Sein Zuckerspiegel ist gesunken, er bewegt seine Arme, wischt den Schweiß mit einem Taschentuch weg.
Als er sich kräftig genug fühlt, steht er auf. Das Flugzeug hat längst abgehoben. Die Mitarbeiterin am Schalter bucht für ihn einen späteren Flug. Sie drückt das neue Ticket in Lukas Hand. In der anderen hält er seinen Diabetiker-Pass mit allen Infos zu seiner Krankheit.
Die Insulinspritze am Morgen, ein Brötchen mit Erdbeermarmelade, Schokoriegel vor dem Check-In, Kakao danach – „Ich hatte an dem Tag viel zu viel Zucker zu mir genommen. Dabei wollte ich eigentlich nur der Gefahr einer Unterzuckerung entgehen“, sagt Lukas. Er ist 54 und leidet seit zwölf Jahren an einer schweren Form von Diabetes. Seine Krankheit ist nach wie vor unberechenbar.
(*Name geändert)
Katrin Verschaffel
Aufgabe: Eine Szene beschreiben, die ich nicht selbst miterlebt habe, sondern mir erzählen ließ. (Textwerkstatt 6. Semester OJ, Sommer 2010, bei F. Herrmann)