Lähmende Angst
Ein Beitrag von
Montag, 21. Juni 2010
Onlinejournalismus
Nina nimmt sich den Wäschekorb, sammelt noch zwei Hemden vom Boden auf und geht Richtung Waschküche. Plötzlich bekommt sie eine Gänsehaut. Ihre Nackenhaare stellen sich auf. Sie dreht sich um. Irgendetwas stimmt hier nicht. Aber niemand ist zu sehen. Der graue Putz an den Wänden und der modrige Geruch machen die Situation nicht angenehmer.
Sie geht einige Meter weiter und pfeift das Lied „Morning has broken“. Das pfeift sie immer, wenn sie unsicher ist. Klack. Nina schreckt zusammen und lässt den Wäschekorb fallen. „Das war nur die Tür“, sagt sie zu sich und pfeift weiter. Sie schmeißt die Wäsche in die Trommel, schaut sich aber die ganze Zeit um.
Jetzt hört sie eindeutig, dass jemand die Klinke zur Kellertür hinunter drückt. Fast schon panisch sucht Nina in der Waschküche nach einem Versteck. Doch abgesehen vom Trockner, der Waschmaschine und dem Wäschekorb ist der kühle Raum leer. „Hallo? Wer ist da?“ ruft sie voller Verzweiflung. Keine Antwort. Nur die Schritte nähern sich der Waschküche. „Wer ist da?“ ruft sie erneut. Wieder keine Antwort.
Nina sucht nach einem Gegenstand, den sie als Waffe verwenden kann. Irgendetwas. Sie nimmt den Wäschekorb mit beiden Händen und hält ihn über ihren Kopf, sodass sie zuschlagen kann. Gleich ist er da, denkt sie sich. Sie hält den Atem an und konzentriert sich auf den Moment. Nina sieht durch den Türspalt, dass sich ein Schatten nähert. Ihr Herz pocht. Sie ist kreidebleich.
Die Tür wird geöffnet. Nina will zuschlagen, doch sie trifft ins Leere. Jörg, Ninas Freund, tritt ein. „Man, du hast mir einen Schrecken eingejagt. Warum hast du nicht gesagt, dass du es bist?“ fragt Nina. Die Anspannung lässt nicht nach. Irgendetwas ist komisch.
Jörgs Blick flößt ihr Angst ein. Er hat immer noch kein Wort gesprochen. Nun schließt er die Tür, dreht den Schlüssel um. Nina steht vor der Waschmaschine. Als würde sie bei ihr Schutz suchen, krallt sie sich fest.
Er zückt ein Messer. Wortlos kommt er auf Nina zu. Sie will schreien, kann aber nicht. Die Tränen schießen ihr aus den Augen. „Jörg“, schluchzt sie, „was machst du da?“ „Wo ist er?“ fragt Jörg. „Ich weiß genau, dass du mich immer betrügst, wenn du in die Waschküche gehst. Wo ist er?“ hakt Jörg erneut nach.
Ninas Starre löst sich. Das Messer hat sie weiter im Blick. Jörg lächelt süffisant. „Du hast wohl geglaubt, ich finde es nicht heraus“, sagt er und durchsucht den offensichtlich leeren Raum. Nina atmet durch den Mund. Jörg kommt auf sie zu. Nina krallt sich noch fester an der Waschmaschine fest. „Ich werde ihn finden. Du hast selbst Schuld daran, dass du von ihm schwanger bist“, sagt er, geht zur Tür, schließt sie auf und rennt lachend aus dem Keller.
Nina atmet tief durch. Ihr fließen die Tränen, ihr Gesicht wird knallrot. Sie muss sich übergeben. Starr vor Angst setzt sie sich auf den Betonboden. Zwei Stunden bleibt sie so in der Waschküche. Sie glaubt, sich nicht mehr bewegen zu können. Dann aber flüchtet sie aus dem Raum. Nina schwört sich, die Waschküche nie wieder zu betreten.
Patrick Abele
Aufgabe: Eine Szene beschreiben, die ich nicht selbst miterlebt habe, sondern mir erzählen ließ. (Textwerkstatt 6. Semester OJ, Sommer 2010, bei F. Herrmann)