Allerliebste Schwester
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Dienstag, 28. September 2010
Onlinejournalismus
Der Rotwein spritzt durch das Esszimmer, als ihre Schwester die Weinflasche auf der Tischkante zerschlägt. Rote Spritzer auf der weißen Tischdecke, rote Flecken auf dem beigen Teppich. Für einen Moment steht Johanna versteinert da, starrt den letzten Tropfen nach, die ihrer Schwester den Arm herunterrinnen. Die Schreie ihrer Schwester hallen in Johannas Ohren: „Ich bring‘ dich um, ich bringe dich um“. Immer wieder wiederholt sie die Worte, während sie ihrer Mutter die zerbrochene Flasche an den Hals drückt.
Erinnerungen aus ihrer Kindheit schießen Johanna in den Kopf. Wutanfälle ihrer Schwester, bei denen sie sich mit ihren Fingernägeln den ganzen Körper zerkratzte. Halluzinationen, in denen sie sich einbildete das Haus würde brennen, die wochenlange Aufenthalte in der Kinderpsychiatrie nach sich brachten. Und sie, die kleine Schwester, die immer tapfer und stark sein musste, während die große Schwester von allen verhätschelt und umsorgt wurde. Aber Johannas Schwester ist eben anders. Seit ihrer Geburt leidet sie an einer starken geistigen Behinderung; täglich muss sie starke Medikamente zu sich nehmen. Medikamente, die sie in einen großen Wattebausch hüllen. Medikamente, die sie von der Außenwelt abschneiden. Einer Außenwelt, von der sie sowieso schon aufgrund ihrer Behinderung abgeschnitten ist.
Tränen laufen Johannas Wange hinunter. Ihre Mutter steht ganz still. Als wäre sie auf einmal mit der Situation überfordert, lässt ihre Schwester die Flasche sinken. Ihre Mutter atmet tief durch, streicht sich die vor Angstschweiß verklebten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Johanna nimmt ihre Mutter in den Arm.
Ihre Schwester hebt den Kopf, sieht sie mit ihren klaren blauen Augen an. „Warum bin ich behindert?“, fragt sie voller Vorwurf. „Warum bin ich behindert?“. Völlig klar und bei vollem Bewusstsein. Und dann der Satz, der Johanna das Herz bricht: „Am liebsten würde ich tot sein.“
Johanna Emge
Aufgabe: Eine wahre Geschichte sehr kurz fürs Web erzählen. (Textwerkstatt 6. Semester OJ, Sommer 2010, bei F. Herrmann)